english report and speech of Orhan Çalışır
Am 27.12.2020 gedachten etwa 50 Menschen vor dem Amtsgericht in Neuss an den gewaltsamen Tod von Şahin Çalışır vor 28 Jahren.
Die Initiative Herkesin Meydanı – Platz für Alle Köln, der Solinger Appell, und die Migrantifa NRW teilten ihre sichten und Gefühle mit den anwesenden Personen. Ein Solidaritätserklärung der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avci wurde vorgelesen.
Eine besondere Ehre war es für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass Angehörige von Şahin Çalışır vor Ort waren. Vielen Dank an Orhan Çalışır für den Redebeitrag! Hier die komplette Rede:
"Genau vor 28 Jahren am 27. Dezember 1992 wurde Şahin Çalışır auf der Autobahn 52 bei Meerbusch, ungefähr 5 km von hier entfernt ermordet. Die Täter waren zwei Neonazis und ein rechter Hooligan aus Solingen.
Şahin machte zu der Zeit seine Lehre als Schlosser bei der Firma Thyssen. Ein ruhiger und ehrgeiziger junger Mann, der noch das ganze Leben vor sich hatte.
Wir gedenken heute an Şahin vor dem Amtsgericht Neuss, weil dieses Gericht der zweite Tatort ist. Anfang Oktober 1993 fand hier die Gerichtsverhandlung gegen nur einen der Täter statt. Und zwar gegen Kalus Evertz, einen polizeibekannten Hooligan, der den Wagen fuhr. Für uns, die Angehörigen von Şahin war der ganze Prozess eine Farce.
Anfang der 1990’er Jahre war eine Zeit, wo fast jeden Tag rassistische Überfälle, Brandanschläge und Morde passierten. Ungefähr fünf Wochen vor der Ermordung von Şahin hatten Neonazis in Mölln das Haus der Familie Arslan in Brand gesteckt und drei Menschen umgebracht. Im Land herrschte eine Pogromstimmung gegen die Türkinnen und Türken und gegen Flüchtlinge. Nur die staatlichen Stellen hatten es nicht mitbekommen bzw. spielten die drei Affen.
Schon vor dem Gerichtsaal wurden wir, die Angehörigen von Şahin von Polizisten mit Schäferhunden durchsucht, während die Täter sich wie Zuhause verhielten. Anscheinend wollte der Staat die Neonazis vor uns schützen. Noch mehr: als der jüngste des Trios Marco Hansen seine Aussage machte, stand der Kopf der Gruppe Lars Gerhard Schoof mitten im Gerichtsaal und hatte den Hansen fest im Blick, um einen Fehler von ihm zu unterbinden, weil der bei der polizeilichen Vernehmung die Tat eigentlich zugab.
Er war nicht der einzige von den drei Tätern, der die Tat mehr oder weniger gestand. Der Angeklagte des Prozesses Klaus Evertz schrieb über Şahin vom Gefängnis aus „Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt“. Diese Aussage und der Brief waren dem Gericht bekannt, aber spielten im Prozess keine Rolle. Auch dass Lars Gerhard Schoof, Klaus Evertz kurz nach der Tat bei der Polizei mit dem Satz „bloß den Mund halten“ zum Schweigen brachte, war für das Gericht kein Thema.
Der Staatsanwalt grinste während des ganzen zweiten Verhandlungstages, als ob es hier um einen Schulstreich von pubertierenden Jugendlichen ginge und nicht um den Tod eines 20-jährigen, der aus rassistischen Gründen umgebracht wurde. In seinem Plädoyer sagte der Staatsanwalt, dass es ein unglücklicher Verkehrsunfall war und dass die Jungs - übersetzt die Neonazis - keine Typen seien, die sich ein Auto nehmen und ganz nach dem Motto „jetzt wollen wir Mal sehen, bis ein Ausländer vor dem Kühler läuft“. Mit diesem Staatsanwalt hatten die Täter einen sehr gewichtigen Verteidiger. Er forderte nur für den Fahrer des Autos, einen vorbestraften rechten Hooligan, ein Jahr auf Bewährung. Gegen die anderen beiden wurde nicht mal Anklage erhoben.
So wurde Şahin am 7. Oktober 1993, fast 10 Monate nach seiner Ermordung auf der Autobahn 52 noch einmal getötet. Und zwar hier in diesem Haus. Deshalb ist dieses Gerichtsgebäude ein zweiter Tatort. Diese Haltung des Staates bei rassistischen Morden ermutigte die Täter zu anderen, noch brutaleren Taten.
Am 29. Mai 1993 verübten vier Neonazis einen Brandanschlag auf das Haus von Familie Genç in Solingen. Fünf Menschen starben und 14 wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Drei der vier Täter trainierten zusammen mit Lars Gerhard Schoof in der Kampfsportschule Hak-Pao in Solingen unter der Leitung von Bernd Schmitt, der ein V-Mann des Verfassungsschutzes von NRW war.
Şahin wurde vor 28 Jahren getötet. Zum ersten Mal wird heute an ihn öffentlich gedacht. Spät, aber und hoffentlich nicht zu spät für potentielle Opfer rassistischer Gewalt. Andere Verbrechen können nur durch die entschlossene Bekämpfung des Rassismus verhindert werden. Dazu gehört auch das Gedenken an die Opfer, die wie Şahin teilweise von der Öffentlichkeit vergessen wurden. Oder deren hinterhältige Ermordung nicht mal in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Auf staatliche Stellen können und dürfen wir uns nicht verlassen, hat die Erfahrung uns gelehrt. Sie haben diese Morde nicht verhindert und nichts sagt uns, dass sie es in der Zukunft tun werden.
Nur die Selbstorganisation und die Selbsttätigkeit der potentiellen Opfer, der Anti-Rassistinnen und Anti-Rassisten, der Migrantinnen und Migranten kann rassistische Angriffe und Morde verhindern und uns Sicherheit geben."
Die Rede von Orhan Çalışır findet ihr auch auf youtube: https://youtu.be/CuPqbDhGCcM