Der folgende Bericht zusammen mit dem Bericht einer Delegation aus Hamburg "Delegationsreise nach Thüringen..." wurden auf der Konferenz "Vereinigt gegen koloniales Unrecht" in Jena vorgestellt.
Delegationsbesuch der Isolationsheime in Gerstungen und Gangloffsömmern
Bericht einer zweitägigen Reise einer Delegation des KARAWANE-Netzwerks aus Wuppertal
report in english, rapor türkce
Am 27. Und 28. Juni besuchten wir, eine Delegation des Netzwerks der KARAWANE für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen aus Wuppertal zusammen mit Mitgliedern des THE VOICE Refugee Forums aus Jena und Flüchtlingen aus Apolda die Isolationsheime in Gerstungen und Gangloffsömmern in Thüringen. Dieser Delegationsbesuch ist der Beginn einer Reihe von weiteren Besuchen der Isolationslager vor Ort in Thüringen und dauert bis zur Aktionskonferenz „Vereint gegen die Fortsetzung kolonialen Unrechts in Deutschland“, die im September 2009 in Jena, Thüringen organisiert wird. Im Folgenden dokumentieren wir die Erlebnisse des ersten Besuchs.
Ankunft in Gerstungen
Am 28. Juni fuhren wir gegen 16:30 Uhr gemeinsam von Jena Richtung Apolda um von dort gemeinsam mit Flüchtlingsaktivisten aus zwei der Isolationsheimen weiter Richtung Gerstungen zu fahren. Gerstungen liegt im Westen von Thüringen an der Autobahn A4, im Werratal im Landkreis Wartburg. Kurz nach Eisenach bildet die Autobahn die Grenze zwischen Thüringen und Hessen. Ein Schild an der Autobahn kündet davon, dass man Thüringen verlassen hat. Kurz danach kommt die Ausfahrt Gerstungen. Wir nehmen die Ausfahrt und kommen in Untersuhl an. Untersuhl ist ein kleines an Gerstungen angrenzendes Dorf. Obersuhl, das Nachbarsdorf liegt einige Hundert Meter weiter im Westen und liegt bereits im Hessen.
In Untersuhl nehmen wir eine der Strassen am Rande der Ortschaft und kommen im Heim an. Das Gebäude ähnelt von weitem vielen anderen Lagern, die wir bereits gesehen haben: heruntergekommen, die vielen Satellitenschüssel, einer der wenigen Verbindungen nach Aussen. Am Eingang sitzt ein Pförtner, der einen Ausweis sehen möchte. Eine Bekannte zeigt ihren Ausweis, der Name wird notiert und wir gehen in den Hof. Vor dem Haus sehen wir etwa zehn Katzen, die alle mit den Blicken auf die Küche dasitzen und auf ein Happen warten, das vielleicht runtergeflogen kommt. Hinter dem Haus ist eine Reihe von Garagen. Viele der ehemaligen und jetzige Bewohner und Bewohnerinnen haben sich durch Wandsprüchen an den Garagentoren hier in verschiedenen Sprachen verewigt. „Jeder sieht mein Lachen durch“ steht da geschrieben, ein Schrei eines jungen Menschen aus der Isolation des Heimlebens wahrscheinlich.
Im Eingangsbereich im Haus lernen wir die Verbote kennen. Die Bahngleise dürfen nicht übertreten werden. Es sei polizeilich verboten und gefährlich und außerdem droht Geldstrafe. Weiterhin lernen wir, dass in Gerstungen Anwesenheitskontrollen durchgeführt werden: „Um Probleme bei der nächsten Geldauszahlung zu vermeiden, melden Sie sich einmal täglich bei der Wache!!“ Beide Verbote sind in deutsch, englisch und französisch übersetzt. In dem Heim leben nach den Angaben der Bewohner etwa 80 Menschen. Die, die wir getroffen haben, kommen aus Afghanistan, Aserbaidschan, Irak, Iran, Sierra Leone, Syrien. Kaum sprechen sie einer der westeuropäischen Sprachen. An den Aushängen lernen wir auch einiges über die Gesundheitsversorgung. Jede Person muss ein Teil der Fahrtkosten für Arztbesuch selber bezahlen. Im Monat kann es 6,71Euro pro Person betragen. Entsprechende Formulare werden benötigt, um den Arztbesuch bestätigen zu lassen. Alle Fahrkarten etc. müssen dem Sozialbüro vorgezeigt werden. Für Besuche bei Fachärztinnen oder -ärzten muss separat beim Sozialbüro ein Behandlungsschein abgeholt werden.
Anschließend gehen wir in die Küche im Erdgeschoss. Gerade kochen drei aserbaidschanische Flüchtlinge und einige Iraner. Die Küche hat drei Spülen ohne Ablagefläche auf der linken Seite. Rechts sind die Herde. Trostlos sind die Wände und die kitschigen Limonadenwerbungen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts an der Wand machen das ganze nicht schöner.
Wir setzen uns bei einem aserischen Flüchtling ins Zimmer und reden mit ihm und einigen anderen. Die Anwesenheitskontrollen sind täglich. Wenn jemand sich zwei Wochen nicht im Heim aufhält, wird er oder sie abgemeldet. Fast alle im Heim erhalten Gutscheine in Höhe von 126 Euro. Viele erhalten gar kein Bargeld. Die Ausländerbehörde des Landkreis Wartburg ist in Bad Salzungen, etwa 30 km südlich von Untersuhl, die Fahrt dorthin und zurück kostet alleine 6 Euro. Die Duldungen werden meist für 6 Monate ausgestellt.
Freiheitseinschränkung durch Residenzpflicht
Einer der aserischen Flüchtlinge erzählte uns, dass er sein Kind gerne besuchen wolle, dass ihm aber dies von der Ausländerbehörde aufgrund der Residenzpflicht verweigert wird. Als einer der zwei Sozialarbeiterinnen vom Heim aus die Ausländerbehörde anrief, um das Problem zu schildern, sagte die Ausländerbehörde des Landkreises Wartburg: „Ist mir doch piepsegal, ob er ein Kind hat, er soll doch abgeschoben werden.“ Zwei weitere junge aserische Männer erzählen uns, dass sie bei Rewe in Obersuhl einkaufen waren. Dort wurden sie vor dem Supermarkt von Polizeibeamten kontrolliert. Jedem droht jetzt eine Strafe von 40 Euro. Jeder von ihnen hat einen Brief von der Polizei Eisenach erhalten. Später erzählt uns ein Familienvater, Kurde aus Syrien, dass er bereits zweimal wegen Residenzpflicht Geldstrafen zahlen musste. Das erste Mal 40 Euro und beim zweiten Mal 95 Euro. Die Residenzpflicht ist eines der Hauptprobleme in Gerstungen. Da es direkt an der Grenze zu Hessen liegt, haben die Flüchtlinge des Isolationsheims in Untersuhl, Gerstungen nach Norden, Westen und Süden einen Bewegungsradius von 1000 Metern. Im Norden ist die Autobahn A4, im Süden die Bahngleise, deren Überschreiten verboten ist. Praktisch können Sie sich nur nach Untersuhl, Gerstungen und nach Osten bewegen. Diese Einschränkung in einem kleinen Landkreis ist besonders absurd in einem vereinten Europa ohne Grenzen und macht deutlich, dass nach dem Gesetz zwei Klassen von Menschen in Europa existieren, für die eine gibt es keine Grenzen für die anderen kann jeder Landkreis zu einer Hürde werden und sie in ihre Freiheit einschränken. Felix Otto sitzt in Thüringen für sein natürliches Recht auf Freiheit der Bewegung hinter Gittern.
Die Residenzpflicht hat außer der Freiheitseinschränkung weitere materielle, gesundheitliche und aufenthaltsrechtliche Folgen für die Flüchtlinge aus Untersuhl. Da sie nicht nach Obersuhl einkaufen gehen können, müssen sie manchmal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den nächsten Ortschaften fahren und 4 Euro zusätzlich zahlen von dem wenigen Geld, was ihnen im Monat zur Verfügung steht. Der Zahnarzt in Gerstungen verweigert die Behandlung der Flüchtlinge, weil das Sozialamt für die Behandlung der Flüchtlinge nicht genügend zahle. In Gerstungen und Untersuhl existieren keine Flüchtlingsberatungsstellen, an die sich die Flüchtlinge wenden können.
Wir sprachen mit mehreren Familien und alleinstehende im zweiten Stockwerk. Eine Aserbaidschanerin erzählte uns, dass sie von der Abschiebung bedroht sei. Sie habe bereits hier viele Abschiebungen im Morgengrauen erleben müssen und habe Angst selbst abgeschoben zu werden. Ihr Mann sei im Heim gestorben. Nun lebt sie dort alleine mit ihrem beiden Kind. Sie wisse nicht, wie sie in Aserbaidschan alleine zurechtkommen soll.
Wir sprachen mit einer kurdischen Familie aus Syrien. Sie besteht aus den Eltern und ihren vier Kindern. Sie leben seit sieben Jahren in Deutschland. Sie möchten eigentlich sofort weg von diesem Isolationsheim. Die 20-jährige Tochter erzählte uns, ihr Herz ist hier schwarz geworden. Die Söhne sind 19 und 17 Jahre alt. Das jüngste Kind ist ihre 7-Jahre alte Tochter. Die Familie fühlt sich in den Räumen eingeengt. Die älteren Geschwister teilen sich einen Raum. Die Tochter und die Brüder müssen sich arrangieren, um die Intimsphäre des anderen nicht zu verletzen. Einer der Söhne leidet an einer Krankheit, die laut dem behandelnden Arzt durch die Unterbringung im Heim verursacht ist. Um in der Schule nicht aufzufallen, muss er sich jeden Morgen vor der Schule duschen, doch um sechs Uhr morgens fehlt es im Heim am warmen Wasser. Die älteste Tochter fühlt sich im Heim unter alleinstehenden Männern nicht wohl. Wenn sie zum Bad geht, wird sie von ihrer Mutter begleitet. Die Kinder haben alle die Polizeiaktion miterleben müssen, die sich gegen einen Flüchtling richtete. Es kamen über 300 Polizisten, Hubschrauber kreisten und alle Zimmer wurden durchsucht. Die Kinder und auch andere scheinen davon immer noch traumatisiert.
Die Anträge auf eine Umverteilung scheitern alle, weil die Familie keinen Pass der Ausländerbehörde vorlegt. Dass die Kurden in Syrien keine Rechte, nicht mal eine Geburtsurkunde erhalten, interessiert anscheinend die Behörden nicht. Nach dem Abschiebeabkommen mit der syrischen Regierung hat Deutschland angefangen verstärkt Syrer nach Syrien abzuschieben.
Die jungen Männer aus Aserbaidschan und die kurdische Familie aus Syrien hatten gekocht. Wir aßen zusammen in einem Raum mit anderen Heimbewohnerinnen und -bewohner. Wir tauschten uns aus und lernten uns kennen. Nach dem wir gemeinsam gegessen haben, verlassen wir nach Mitternacht Untersuhl, Gerstungen Richtung Apolda und Jena und ein unruhiges Gefühl bleibt. Es ist das gleiche Gefühl, das uns jeden Tag vorantreibt. Es ist das Unrecht, das tagtäglich um uns, egal wo auf dieser Welt praktiziert wird, und an uns nagt… Es ist die Überzeugung und die Wut die stärker hervorkommen und uns antreiben, alles was uns einengt, einschränkt und zerstört, beseitigen zu müssen, verändern müssen um eine Welt aufzubauen, die von Menschen für Menschen gemacht wird. Eine Welt, in der wir nicht von einem abstrakten Markt diktiert werden, und uns spalten lassen in Länder und Grenzen, in Religionen und Geschlechter für die Interessen von Dritten.
Besuch in Gangloffsömmern
Am Sonntag, den 28. Juni fuhren wir vormittags von Jena nach Apolda, um mit den Freunden aus Apolda nach Gangolffsömmern zu fahren. Gangloffsömmern ist eine Gemeinde im Landkreis Sömmerda in Thüringen. Sie gehört der Verwaltungsgemeinschaft Straußfurt an. Das Dorf besteht aus schönen kleinen Häusern eingebettet in einer wunderschönen Landschaft. An diesem schönen Sommertag suchten wir das Heim. Wir fanden schließlich die Gasse und bogen von der Hauptstrasse in diese ein. Hinter der ersten Häuserfront, der sehr schön war, verbarg sich in der zweiten Reihe ein großes, seit Jahren nicht renoviertes, heruntergekommenes Gebäude. Ein Freund von THE VOICE meinte treffend: „So sieht ein Ghetto mitten im Dorf aus!“ Wir traten in den Hof ein und dort wartete bereits ein Mann. Ein Kurde aus dem Irak. Es kamen andere und im Hof sprachen wir über das Leben in Gangolffsömmern.
Während wir sprachen kamen drei weitere kurdische Flüchtlinge aus dem Gebäude heraus und nach dem wir uns begrüßt und vorgestellt hatten, spazierten sie in dem Hof. Wir hatten das Gefühl, als ob es Gefangene wären, die im Hof Freigang hatten.
In dem Heim leben über 20 Flüchtlinge. Sie kommen aus Aserbaidschan, Irak, Iran, Tschetschenien und Vietnam. Die meisten sind alleinstehende Männer. Es leben aber auch zwei Frauen mit ihren Kindern.
„Man wird verrückt hier!“ sagte ein Kurde, der noch nicht lange da ist. Die Flüchtlinge erhalten in Gangloffsömmern ebenfalls Gutscheine und zwischen 10 und 40 Euro in Bar. Im Dorf gibt es aber keine Einkaufsmöglichkeit. Der nächste Supermarkt ist in Straußfurt. Die Tickets dorthin kosten zwei Euro, d.h. für jeden Einkauf muss 4 Euro extra berücksichtigt werden. Es klingt vielleicht für manche Menschen auf den ersten Blick nicht viel, aber bei einer monatlichen zur Verfügung stehenden Summe von 130 oder 140 Euro hat jedes Euro einen anderen Wert. In Gangloffsömmern sind die Zimmer im Heim für drei bis vier Flüchtlinge. Die Flüchtlinge können nicht viel auf einmal einkaufen, weil sie im einzigen Kühlschrank im Raum sonst kein Platz haben.
Im Dorf gibt es keine Sozialarbeiter noch irgendwelche karitativen, kirchlichen Beratungsstellen. Die Ausländerbehörde ist in der Stadt Sömmerda. Die Tickets dorthin kosten ebenfalls zwei Euro. Die Behördenmitarbeiter seien sehr erniedrigend. Sie reden nicht mit den Flüchtlingen. Die Ärzte sind in Straußfurt, das Sozialamt in Sömmerda.
Die Isolation ist das größte Problem in Gangloffsömmern. Ein junger iranischer Flüchtling, den wir aus Freienbessingen kannten, sagte: „Freienbessingen war besser als hier. Dort waren wir alle eine Familie.“ Freienbessingen war eine ehemalige Kaserne mitten im Wald außerhalb einer Ortschaft. Hier aber mitten im Dorf ist Mensch trotzdem isoliert. „Ich begrüße die Leute, sie grüßen aber nicht. Mittlerweile habe ich es aufgegeben!“ sagt er. Er erzählt uns, dass er sich einmal umbringen wollte. Pamella, eine Kamerunerin, die mittlerweile in Hamburg ist, hat es gesehen und hat ihm gesagt: „Warum machst du das? Du hast soviel erlebt, wenn du dich umbringst, schmeißt du dein Leben komplett weg. Lass es sein.“ Er erzählt uns, dass er normalerweise deutsches Fernsehen schaut, um sein deutsch in der Isolation zu verbessern. Momentan verfolgt er aber nur die iranischen Sender, weil die Ereignisse im Iran ihn sehr tief berühren.
Der kurdische Flüchtling erzählt uns, dass er gerne nach Eisenach zur Caritas gehen würde. Er macht es aber wegen der Residenzpflicht nicht. Er war einmal in Sömmerda, als er gemerkt hat, dass der letzte Bus schon weg ist und dass er nachts nicht nach Gangloffsömmern kommt. Er hat den Zug nach Eisenach genommen, um von dort mit dem Regionalzug nach Gangloffsömmern zu fahren. In Eisenach ist er jedoch von Polizeibeamten kontrolliert worden und musste wegen Verletzung der Residenzpflicht 123 Euro bezahlen. Er sagte: „Wir haben nicht viel zum Leben!“ Aber schlimmer ist, dass man uns auch noch hier einsperrt. „Ich kann mir hier keine Telefonkarten kaufen, um mit meinen Verwandten in Irak zu sprechen!“ Die Telefonkarten für billige internationale Telefongespräche sind in Eisenach erhältlich. Er sagt: „Denkt ihr ich bin hier, um zu essen und zu schlafen? Denkt ihr im Irak sind wir keine Menschen und haben keine anderen Probleme?“ Die Wut sprach aus seinen Worten. Er und die anderen meinten: „Du kommst hierhin als Mensch mit deiner Würde und wenn du lange hierbleibst, wirst du ein anderer Mensch!“
Noch eine Weile sprachen wir über dies und jenes, über die Abschiebedrohung gegen den iranischen Flüchtling, über die Bekannten, die in Freienbessingen waren und dann verabschiedeten wir uns. Wir fuhren los Richtung Wuppertal und die Freunde von THE VOICE fuhren nach Apolda und Jena. Bevor wir losfuhren, tauschten wir die Kontakte aus. Wir verabredeten uns wiederzusehen und über die Probleme zu reden und Lösungswege zu suchen.
Auf dem Rückweg war unsere Empörung über das Isolationsheim sehr groß. Wir redeten noch über die Erniedrigung und die Zerstörung der Menschen und die großen Worte über Integration und Menschenrechte schienen uns Ohrfeigen zu sein. Wir wünschten uns, viele Menschen würden sich trotz der langen Strecken, die Mühe machen, die Menschen zu besuchen, um zu sehen, wie hier systematisch sie zermürbt werden. Wir wünschten uns, mehr Menschen würden sich in dieser Gesellschaft umeinander kümmern und Brücken der Solidarität bauen zu denjenigen, die hier entrechtet, gedemütigt, entmenschlicht und isoliert werden.