Auswertung der Delegation Nürnberg
1. Initiative
Auf Initiative der kurdischen BDP sowie des Dachverbandes der kurdischen Vereine in Deutschland, Yekkom gab es auch zu diesen Parlamentswahlen in der Türkei die Einladung, Delegationen aus Europa und hier Deutschland zu bilden, die einen freien und fairen Verlauf der Wahlen, insbesondere in den kurdischen Gebieten begünstigen sollten.
Erster Ansprechpartner war dabei die Partei „Die Linke“, die dann in Zusammenarbeit mit den kurdischen PartnerInnen ihrerseits nach Menschen suchte, die bereit waren, sich an einer Delegation zu beteiligen, auch über die Parteigrenzen hinaus.
Die Delegation, die sich in Nürnberg gfunden hat, bestand aus MdB Harald Weinberg, der Stadträtin der Linken Liste in Nürnberg Marion Padua, dem Aktivisten der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen Markus Schuler, sowie einer Übersetzerin.
2. Ziele und Methoden, Auftrag
Schon hier in Nürnberg gab es eine eingehende Vorbereitung auf die Tage in Kurdistan.
Wir erfuhren einiges über den Rahmen, in dem die Wahl stattfinden wird.
Wir stellten klar, was unser Auftrag bei der Wahlbeobachtung sein sollte: beobachten und dokumentieren, nicht aktives Einmischen, auch und besonders, um Kontaktpersonen vor Ort nicht zu gefährden.
Schon häufig wurden nach entsprechenden Delegationen Kontaktpersonen im Anschluss verhaftet.
Uns wurde vermittelt, es sei vorläufig geplant, dss wir im Raum Batman zum Einsatz kämen und wurden über die politische und soziale Situation vor Ort unterrichtet.
Wir haben dann also Tickets nach Batman gebucht und sind am Freitag, 10. Juni dort eingetroffen.
3. Situation vor Ort:
Schon am Umsteigeflughafen Istanbul erfuhren wir, dass wir am nächsten Tag nach Amed/Diyarbakir fahren würden und von dort womöglich ganz woanders eigesetzt würden.
Nichtsdestotrotz trafen wir in Batman auf sehr gut vorbereitete Kontaktpersonen, die uns im Schnelldurchgang Informationen über Batman, die Kandidaten, die Repression und die notwendigen Hindergründe lieferten:
Batman hat 300.000 Einwohner, 225.000 Wahlberechtigte.
Die Stadt ist von 40.000 (1990) auf die heutige Zahl angewachsen. Grund für schnelles Anwachsen ist die Zerstörung und Vertreibung der Dörfer. Dadurch gibt es viele soziale Probleme. Man geht von 70% Armut aus. Stadt versucht durch Essenstafeln durch Spenden zu helfen. 15 % des türkischen Ölverbrauches kommt aus Batman.
Batman ist damit ein gutes Beispiel für die meisten kurdischen Städte.
Die Gemeinde ist seit 12 Jahren in kurdischer Hand, Hochburg der BDP, ca. 70%
Der Bürgermeister ist mit 3.000 anderen Mandatsträgern verhaftet worden, seit 72 Wochen in Haft.
Unsere Unterbringung war organisiert, sowie die Fahrt am nächsten Tag nach Amed, wo sich alle Delegationen zu einer gererellen Einweisung trafen.
Wir wurden den Kandidatinnen Nursel Aydogan und Leyla Zana vorgestellt und besuchten das wöchentliche Sit-In der Samstagsmütter.
Wir kamen in Kontakt mit den „Kindern von Diyarbakir“ (wer den gleichnamigen Film kennt, weiß was gemeint ist: Strassenkinder, vielfach Kriegswaisen), die uns von einem älteren Mann vorgestellt wurden, der auch an dem Sit-in teilgenommen hatte, und begleiteten uns eine Weile. Sie setzten große Hoffungen und Erwartungen in die Wahlen und in uns, weil sie sich eine Veränderung und eine Lebensperspektive bzw. ein Ende der kurdischen Isolierung in der Welt erhoffen.
Nach dem Delegiertentreffen, das von der Führung des Wahlblocks geleitet wurde, erfuhren wir, dass unsere Delegation in Sirnak eingesetzt werden sollte. Dazu bekamen wir ortskundige Übersetzerinnen an die Seite gestellt.
a.) Repression, DTP-Verbot
Kurz nachdem die Vorgängerin der BDP, DTP die letzten Kommunalwahlen vor 2 Jahren gewonnen hatte, wurde sie verboten. Tausende von Mitgliedern wurden festgenommen, darunter auch viele Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, wie auch der von Batman.
b.) Projekt Wahlbündnis „Block“, angedachte Perspektiven
Die BDP ging nun ein neues Projekt an: sie organisierte zu den türkischen Parlamentswahlen den „Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit“.
Darin organisiert sind türkische sozialistische Kräfte, Aleviten, Vertreter und Vertreterinnen der assyrischen Christen, Armenier usw. Es sollte versucht werden, allen Minderheiten und fortschittlichen Kräften in der ganzen Türkei einen Platz einzuräumen.
Es wurde eine Frauenquote festgelegt von 40%. Dies traf erst auf Widerstände, besonders bei kurdischen Männern, hat sich aber großartig bewährt.
Es traten nun auch viele Kandidatinnen zur Wahl an, unter anderen in Amed die auch hier bekannte kurdische Politikerin Leyla Zana, die 1992 wegen eines Satzes auf kurdisch im türkischen Parlament, zu 12 Jahren Haft verurteilt worden war. Sie wurde nun mit 84% gewählt.
Der Wahlkampf war geprägt von einer massiven antikurdischen Kampagne der AKP und der Gülenbewegung.
Der Wahlkampf des Blocks war überschattet von weiteren Festnahmen, dem Versuch, vielen Kandidatinnen Politikverbot zu erteilen, bzw, ihre Kandidatur nicht zuzulassen, was fast einen Aufstand zur Folge hatte.
Daraufhin knickte der Staat ein und ließ die Kandidatinnen und Kandidaten wieder zu.
Der Wahlkampf des Blocks konnte nicht auf staatliche Wahlkampfhilfen zurückgreifen. Nach der letzten Wahl, als die DTP 20 Sitze errungen hatte, wurde die erforderliche Anzahl für eine Fraktionsbildung, die zum Erhalt won Wahlkampfkostenerstattung berechtigt, nachträglich auf 22 festgelegt.
So hat die kurdische Bevölkerung viele Opfer gebracht, und sich massiv selbst am Wahlkampf beteiligt.
4. Vorbereitung der Delegationen
Die Vorbereitung war sehr ernsthaft und verantwortlich. Auch, als sich die Situation vor Ort hinsichtlich des Einsatzgebietes geändert hatte lief die Organisation nahezu reibungslos, was unsere uneingeschränkte Anerkennung verdient.
5. Umsetzung, Empfang, Betreuung Chemie innerhalb der Delegation, Verhältnis zu BetreuerInnen.
Uns wurde eine mitunter beschämende Aufmerksamkeit zuteil und unsere ÜbersetzerInnen und Betreuerinnen Rukiye und Rusen entpuppten sich als große Kämpferinnen mit einem großen Herz, Einfühlsamkeit und Flexibilität, auch und besonders in kritischen Situationen. Frauen wie sie sind es, die die Bewegung zusammenhalten, weil sie sich nicht als Platzhirsche aufführen, keine Dominanzkämpfe nötig haben und das Prinzip Solidarität statt Konkurrenz verinnerlicht haben.
Die Chemie innerhalb der Delegation wurde dadurch begünstigt. Sie hielt auch kritischen Situationen stand, eine gute Nachbereitung war möglich und es war möglich Dinge kritisch aufzuarbeiten.
6. Verlauf
Der Wahlverlauf ind den kurdischen Gebieten war geprägt vom allgegenwärtigen Militär und schwerbewaffneter Polizei. Die Wähler und Wählerinnen besonders auf Land waren massiven Einschüchterungsversuchen durch die sogenannten Sicherheitskräfte ausgesetzt. Auch, wenn die Wahl allgemein vom Ablauf her korrekt war, darf nicht vergessen werden: Es hat auf jeden Fall auch Manipulationen gegeben. Viele Stimmen des Blocks, die nicht genau im Kreis gestempelt waren, wurden ungültig gewertet.
Wahlen unter diesen Bedingungen würde hierzulande sofort annulliert. Als frei und fair, können sie also insgesamt nicht bezeichnet werden.
7. politische Schlussfolgerungen nach der Wahl. (Kräfteverhältnis, Rolle der Frauen im Prozess)
Wir befinden uns nach der Wahl nun in einer heiklen Phase. Nachdem im Wahlkampf besonders von staatliche und AKP-Seite viel Hass gepredigt und Porzellan zerschlagen wurden, besteht nun die Notwendigkeit, für die angedachte Verfassungsänderung aufeinander zuzugehen und miteinander zu reden.
Dabei pfuschen immer wieder reaktionäre Kräfte ins Handwerk, wie die Anschläge auf friedlich Feiernde nach der Wahl, weitere Festnahmen sowie die Bombardierungen in den Zagros-Bergen zeigen.
Der Wahlblock konnte seine Stimmen nahezu verdoppeln und somit ist die kurdische Frage auf der Aganda und nicht mehr von Tisch zu wischen. Sie wird in einer neuen Verfassung auf jeden Fall Berücksichtigung finden müssen.
Die Eckpunkte des Wahlblocks dazu sind:
- Gesellschaftlicher Konsens für Freiheit für alle
- Demokratie und Rechtsauffassung nach internationalem Standard
- Der Staat ist für die Bürger da und muss sie schützen. Nicht den Staat vor den Bürgern schützen.
Dazu die zehn Forderungen, die von der kurdischen Bewegung 2011 entwickelt wurden:
1. Die militärischen Operationen müssen beendet werden.
2. Die politischen Gefangenen sollen freigelassen werden, ohne Ausnahmen.
3. Die 10% Hürde soll weg.
4. Neben den gesetzlichen Barrieren gegen die kurdische Sprache und Kultur, sollen die gesetzlichen Barrieren gegen die Meinungsfreiheit und die Freiheit, Vereinigungen bilden, beseitigt werden.
5. Bildung in der Muttersprache sowie mehrsprachiges Leben soll garantiert werden.
6. Es soll eine zivile, demokratische Verfassung entworfen werden.
7. Der Staat soll seine Truppen aus den Konfliktzonen abziehen sowie illegale Einheiten wie Jitem und die Dorfschützer auflösen.
8. Es sollen Bedingungen geschaffen werden, die es ermöglichen, in unsere Dörfer zurückzukehren, die Schäden sollen ersetzt werden.
9. Es soll eine Überführung in eine dezentrale Verwaltung geben
10. Es soll eine Wahrheitskommission gegründet werden.
Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan hat seinen Teil zu einem möglichen Gelingen beigetragen und den einseitigen Waffenstillstand verlängert.
Gewinnerinnen der Wahl sind besonders die Frauen, die ihre Akzeptanz durchsetzen konnten und
entgegen der Befürchtungen auch in ländlichen Gebieten unterstützt und gewählt wurden.
Sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Überwindung von Konkurrenzkämpfen und
Dominanzverhalten innerhalb der fortschrittlichen Kräfte und haben durch die Erfahrung
der doppelten Unterdrückung ein genaues Gespür für das, was notwendig ist.
Die Selbstorganisierung in den kurdischen Gebieten ist beeindruckend. Sie umfasst alle Teile der Gesellschaft und viele emanzipatorische Projekte, wie z.B. die Rolle der Frauen oder die Akzeptanz für Schwule und Lesben, ein ambitioniertes Projekt in einem feudalistisch geprägten Umfeld.
Die Entwicklung erscheint unumkehrbar. Die zivile Selbstorganisierung ist so stark, dass sie den bewaffneten Kampf der Guerilla als Option zur Veränderung abgelöst hat.
InternationalistInnen, aber auch alle politischen Kräfte in Europa und der Türkei, die den Krieg beenden und eine friedliche Perspektive für alle Menschen in der Türkei unterstützen wollen, sollten das Projekt der BDP unterstützen.
Der Gegenangriff der reaktionären Kräfte
Dem mit 80.000 Stimmen gewählten Abgeordneten Hatip Dicle, der momentan wegen wegen angeblicher Propaganda für die PKK in Haft sitzt, wurde nun vom obersten Wahlrat der Türkei sein Mandat zugunsten eines AKP-Kandidaten entzogen. Aufgrund dieser massiven Missachtung des Wählerwillens haben nun die übrigen 35 Abgeordneten des Wahlblocks beschlossen, das Parlament zu boykottieren, bis Hatip Dicle sein Mandat wieder erhält.
Dies bedeutet einen schweren Rückschlag für Demokratie und Dialog.
Der Anschlag
Am Ende des Wahltags in Sirnak:
Nachdem die kurdische Partei BDP in Sirnak, kurdische Stadt an der Grenze zum Irak in der Türkei, ihre Kandidaten mit deutlicher Mehrheit ins Parlament gebracht hat, wurde friedlich gefeiert.
Dann wurde eine Handgranate oder selbstgebastelte Bombe in die Menge geworfen. Unsere Wahlbeobachter-Delegation aus Nürnberg war nur wenige Meter von dem Anschlagsort entfernt. 12 Personen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Die 54-jährige Hatice İdin ist inzwischen an ihren schweren Kopfverletzungen gestorben, nachdem sie 2 Wochen in Batman im Koma gelegen hat.
Bei den anschließenden Tumulten setzte die Gendarmerie Tränengasgranaten ein und beschoss auch uns und unsere DolmetscherInnen, obwohl bekannt war, dass wir an dieser Stelle aufhielten.
Die Sicherheitskräfte griffen zudem Menschen an, die sich vor dem Krankenhaus versammelt hatten, um etwas über die Verletzten zu erfahren. Dabei beschoss die Jandarma auch das Krankenhaus mit Tränengas und zerstörte alle Scheiben.
Da dies nicht der einzige Anschlag war, sondern ganz ähnliche in mehreren anderen Städten im kurdischen Gebiet, kann von einer gezielten Provokation ausgegangen werden. Das Wahlbündnis der BDP, die zu den großen Gewinnern der Wahl gehört, soll damit wohl eingeschüchtert werden.
Die Wahlbeobachter-Delegation konnte mit eigenen Augen sehen, dass die Provokationen ausschließlich von den Sicherheitskräften ausging. Sie ließen sich auch durch die Anwesenheit ausländischer Delegationen, die sich zu erkennen gaben, nicht von ihren Anschlägen abhalten.
Wie weiter?
Wie es nun weitergehen wird, steht momentan in den Sternen. Nachdem die Vereidigung im Parlament vom BDP/Wahlblock und CHP boykottiert wurde, der Wahlblock war gar nicht im Parlament erschienen, sieht es nach einem Machtkampf innerhalb des türkischen Staates aus, bei dem die regierende AKP versucht, sich die totale Kontrolle über den Staat anzueignen. In den kurdischen Gebieten wird nun weiter auf den Ausbau der autonomen Selbstverwaltung gesetzt. Die Abgeordneten des Wahlblocks treffen sich, statt im Parlament, nun zu wöchentliche Sitzungen in Amed/Dyarbakir.
Ausführlich:
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/Wahlen2011/index…
Nürnberg, 2. Juli 2011