Abschaffung der Residenzpflicht und Schließung von Lagern: Flüchtlingsorganisationen trafen sich in Jena zum Karawane-Festival
Von Gitta Düperthal, Jena
http://www.jungewelt.de/2010/06-08/047.php
Rund 2000 Aktivisten der Flüchtlingsorganisationen »The voice« und »Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge« sowie deutsche Unterstützer haben am Wochenende in Jena bei Demonstrationen, Versammlungen, Theater- und Kunstaktionen lautstark auf ihre desolate Lage aufmerksam gemacht. Unter anderem forderten sie die Abschaffung der sogenannten Residenzpflicht – in keinem anderen Land sind Flüchtlinge in ihrer Bewegungsfreiheit wie in Deutschland eingeschränkt. Sie verlangten die Schließung der Lager und statt dessen Unterbringung in Privatwohnungen. So mancher Jenaer Bürger betrat die von Künstlern auf dem Theaterplatz aufgestellte enge Holzhütte, die eines der von Schimmel und Rost durchdrungenen Elendsquartiere in Möhlau nachstellt, und war schockiert. An den Wänden hingen Fotos, die den baufälligen und verkommenen Gesamtzustand des Lagers zeigten.
Flüchtlinge waren aus der ganzen Republik angereist, um die Öffentlichkeit darüber zu informieren, was ihnen alltäglich angetan wird – per Sondergesetz und Behördenwillkür. Viele Migranten empfanden die Zusammenkunft beim Karawane-Festival als Befreiung. »Hier werden wir ernst genommen und können Kraft tanken«, sagte ein aus einem Lager in Halberstadt angereister afrikanischer Flüchtling gegenüber junge Welt: »Es ist ein Gefühl von Freiheit«.
An vier Orten in der Innenstadt wurde auf Transparenten und mit wütend skandierten Demoslogans Abschiebung als »staatlich kontrolliertes Verbrechen« gegeißelt. Dabei waren unter anderem Flüchtlinge aus Sierra Leone, dem Kongo, der Elfenbeinküste und anderen afrikanischen Staaten, aber auch Kurden aus der Türkei und Palästinenser aus Gaza. Am Mikrophon berichteten einige von ihnen, wie sie – einst vor Bürgerkrieg, Krieg, Hunger, Armut oder politischer Verfolgung geflüchtet – sich jetzt, in Deutschland, rassistischer Polizeigewalt ausgesetzt sehen. Der Kurde Engin Celik berichtete von seinem 31tägigen Hungerstreik in der Abschiebehaft: »Ihre Zerstörungskraft ist so groß, daß wir starke Postionen entgegensetzen müssen.«
Als sich am Freitag ein Trauermarsch zum Gedenken an die Toten der »Festung Europa« in Bewegung setzte, waren traurige und bedrückte Gesichter zu sehen. Die meisten Flüchtlinge haben Bekannte oder Verwandte, die einen grausamen Tod auf dem Mittelmeer starben – seit Jahren drängt die EU-Grenzschutzorganisation Frontex Boote mit Flüchtlingen von der Küste weg aufs offene Meer ab und treibt sie so in den Tod. Am Samstag zog eine bunte Parade durch Jena; dieses Mal trugen einige der Teilnehmer nigerianische Masken – als Symbol für die Toten, die kein Begräbnis erhalten und nicht sichtbar werden dürfen. Abends tönte Reggae und rauer Politpunk durch die Altstadt.
Immer wieder waren Beschwerden der Flüchtlinge über haltlose Zustände in Ämtern und Wohnheimen zu hören, bittere Klagen über Mitarbeiter von Behörden und Polizeiorganen, sowie unverantwortlich handelnde Ärzte und Richter, die bei Abschiebungen mitwirken. Beim öffentlichen Tribunal am Holzmarkt traten zwei Aktivistinnen in schwarzen Roben auf und klagten jene Funktionsträger an, die sich am brutalen Akt alltäglicher Flüchtlingsdiskriminierung beteiligen. Die kurdische Karawane-Aktivistin Naciye Alpay faßte in ihrer Rede zusammen: »Die Entrechtung der Flüchtlinge steht stellvertretend für einen generellen Abbau sozialer und demokratischer Rechte.« Es tobe Klassenkampf von oben: »Im Interesse des Profits probieren sie aus, wie weit sie gehen können.« Längst betreffe Diskriminierung und Kriminalisierung auch andere Bevölkerungsgruppierungen. Hartz-IV-Bezieher müßten beispielsweise ähnliche Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit hinnehmen wie die Flüchtlinge. Die Agentur für Arbeit, ARGE, stelle ihnen ganz nach Belieben Urlaubsscheine aus – oder auch nicht. »Deshalb müssen sich unterschiedliche Bewegungen zusammenschließen, um den Erhalt eines demokratischen Deutschlands zu sichern«, konstatierte Alpay.
Der Aktionskünstler Hermann Josef Hack stellte am Holzmarkt ein Klimaflüchtlingslager mit rund 800 Miniaturzelten auf. Sie trugen Aufschriften wie »smash capitalism« oder »fuck Frontex«. Aktivisten trugen einige der Pappzelte vor das nahe gelegene Gebäude des Vorstands der Firma Jenoptik. Aus dem Fenster schauenden Mitarbeitern und Passanten erklärten sie ihren spontanen Protest: Jenoptik liefere Wärmekameras an Frontex, die damit Flüchtlinge auf hoher See ausfindig mache und von der Küste abdränge.
In einer Diskussionsrunde vor dem Jenaer Theater berichteten Karawane-Aktivisten und »The voice« über Erfolge: Nach langem Protest sei das besonders heruntergekommene Thüringer Lager Katzhütte am vergangenen Freitag endgültig geschlossen worden. Allerdings seien die dort lebenden Flüchtlinge in andere Lager verlegt worden – und hätten nicht endlich, wie gefordert, Privatwohnungen beziehen können. Es gelte also, weiter zu kämpfen.
Solche Gesprächsrunden waren vor allem für Flüchtlinge wichtig, die noch nicht lange in Deutschland sind. Einige von ihnen berichteten verunsichert, noch nie jemanden getroffen zu haben, dessen Asylantrag positiv beurteilt wurde. Auch Kinder beteiligten sich an der Debatte – sichtlich erleichtert, endlich einmal offen aussprechen zu können, wie sehr es sie bedrückt, daß ihren Eltern stets »der Mund verboten wird«. Ein Mädchen sagte: »Für mich als Kind ist es schlimm, mit ansehen zu müssen, wie meine Mutter im Sozialamt gedemütigt wird – und deshalb sogar krank ist.« Eines der wichtigsten Ziele in Jena sei gewesen, Flüchtlinge zu organisieren, sagt Osaren Igbinoba: »Es geht darum, sich gegenseitig Courage zuzusprechen, um den Kampf gestärkt wieder aufnehmen zu können.«